15.06.2014

DANN KÖNNEN WIR SO WAS EBEN IN ZUKUNFT NICHT MEHR MACHEN

Zukunft in Auflösung - ein Text-Tsunami-Bausatz

Der Samstagvormittag beginnt stürmisch in Rudolstadt. Kein Wetterbericht hat davor gewarnt. Und das Gewitter entfesselt sich auch vorerst nur auf der Bühne des Landestheaters, wo der art der stadt e. V. aus Gotha zum Rundumschlag am Puls der Zeit ausholt und die Hirne der Festivalteilnehmer und –gäste mit einem Dauerfeuer von Gedankensplittern, Themen, Fragen, Kurzszenen, chorischen und dialogischen Wortkaskaden im Rösselsprung über die Baustellen von Gegenwart und Zukunft hetzt.
Nach dem Ende werde ich minutenlang nichts Zusammenhängendes mehr sagen können, werde eine Neuformatierung meines Kopfes in Erwägung ziehen müssen, um wieder funktionieren zu können. Aber ist das ständige Funktionierenmüssen nicht gerade das, was uns krank macht?

Am Anfang ein vielstimmiges (genauer: vierstimmiges) Stoßgebet: „Bitte, bitte schick uns endlich Katastrophen!“ In der Mediengesellschaft findet Wirklichkeit nur noch dort statt, wo die Reporter sind. Und das ist immer woanders – meistens weit weg. Während man sich doch Veränderung im eigenen Umfeld herbeisehnt (zum Teil vielleicht aber auch nur deshalb, weil sie woanders zu bildmächtig dargestellt wird…?). Krieg und Verwüstung als sinnstiftender Ausweg aus der Wohlstandskrise? Kann uns nur noch die Apokalypse retten? Erzeugt zu langer Frieden gesellschaftliche Autoimmunkrankheit?
Thesen, Fragen, Zweifel werden tief ins Fleisch geschossen, gleich darauf in der Wunde herumgedreht, herausgerissen und über den Schädel gezogen. Ohne Pause, im Stakkato, und mit perfektem Rhythmus und Timing. Sieben meterhohe Buchstaben, die im ersten Rampenlicht das Wort „ZUKUNFT“ bilden, werden dabei in präziser Choreographie umgestellt, –gedreht, –gestürzt, zu bizarren Bühnenlandschaften gruppiert. Eine virtuose Lichtregie tüncht diese in wechselnde Farben und Stimmungen.
Ein Schweinsgalopp durch die verschiedensten Unbehagensregionen nicht nur der Jugend, sondern der Zeit. Etliche Dutzend thematische Stationen habe ich im Dunkel des Zuschauerraums in mein Notizbuch gekritzelt – von Ausweglosigkeit („Wir kommen hier nicht mehr raus – und warum auch?“) über totale Überwachung („Wir können nicht davonlaufen – jeder sieht uns!“), Verpassen der Gegenwart, Schulsystem, Bevormundung, Entgrenzung, Persönlichkeits-Coaching, hyperreflektierte Kommunikation und political correctness, Ablehnung von Machtstrukturen als kalkulierter Teil der Machtstrukturen selbst usw. bis hin zum Verlust des realen Lebens an Facebook –; vermutlich wäre die Liste der nicht angerissenen Aspekte weit kürzer.





Ein beklemmender Moment entsteht, als mitten aus diesem Tempo heraus die Frage nach den Erwartungen an die Zukunft gestellt wird und – minutenlang – nichts geschieht: Eine der Spielerinnen steht in verzweifelter Erwartung im Bühnenzentrum…, und bei uns im Publikum hört man keine Stecknadel mehr fallen. Wahrscheinlich frage nicht nur ich mich, ob das jetzt das Stückende sei und jemand anfangen sollte zu klatschen. Zum Glück tut es niemand. Die Akteure werden die nächsten Fäden ihrer allgemeinen Beunruhigung mit neuem Tempo aufnehmen.

Man mag einwenden, dass die aufgegriffenen Diskurse alle schon in den Medien waren, aber soll Theater denn neue Probleme erfinden? Wichtig ist doch, dass es den aktuellen Themen nicht ausweicht. Gewiss könnte man bemängeln, dass viel zu viele Gedanken hier in 100 min verpresst wurden (in der Tat werde ich mich hinterher fragen, mit welcher Magie das hier gelungen ist). Sollte man sich lieber auf einen Gedanken konzentrieren? Und diesen in tausend Worte einbetten? Viel zu oft indessen beruhen teuer produzierte Werke auch auf keinem einzigen Gedanken. Die inhaltliche Stärke dieser atemberaubenden Titanenproduktion dagegen ist für mich gerade, dass sie uns nichts an Komplexität erspart, dass sie all diese derzeit von allen Seiten auf die Jugendlichen einstürmenden Fragen so miteinander verbindet, dass sie deren multiple Zusammenhänge wie ihre unauflösbaren inneren Widersprüche greifbar werden lässt, dass sie auch den Älteren unter uns manches vermeintlich längst Abgehakte im Angesicht dieses umfassenden Bedingungsgeflechts zur Wiedervorlage auftischt, uns nicht mit einfachen Antworten entlässt.

Ein Beispiel für die Metapherndichte: Einmal entsteht die Buchstabenfolge KUNZT auf der Bühne. Man kann darin ebenso Hinweise auf den fortgeschrittenen Verfall der Sprachkultur sehen wie auf die stetige Verknappung der Mittel für Kultur und Kunst, was Letztere nur noch durch waghalsige Improvisation ausgleichen kann, während sich die Medienindustrie quotentechnisch an (Hinz und) Kunz orientiert. Zugleich ergibt sich damit auch eine subtile inhaltliche Brücke zum Titel der Produktion: Wie lange werden so engagierte Projekte in so hoher Qualität noch möglich bleiben? Und was wird aus der gesellschaftlichen Kultur, falls nicht?
Im letzten Bühnenbild sehen wir den Schriftzug ZUKUNFT wieder vereint – aber von seiner Rückseite. Was für ein Symbol!
Dass diesem Stück der Sonderpreis der Jury zugesprochen wurde, hat mich persönlich gefreut, und auch den Publikumspreis würde ich den Gothaern unter ihrem Regisseur Constantin von Thun von Herzen gönnen* (aber das liegt ja nicht in meiner Entscheidung allein).



Kay Gürtzig


* Nachtrag: Sie haben ihn tatsächlich erhalten. Gratulation!